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Kabul 2019 - der Anschlag, mit dem alles begann
Der 02. September 2019. Dieser Tag und alles, was er mit sich gebracht hat, war mein schlimmstes und intensivstes Erlebnis - aber auch das, was mich am meisten wachsen und zu mir selbst finden lassen hat. Irgendwie war es auch der Anfang meiner Tätigkeit als freier Coach. Doch dazu später...
Erstmal die deutliche Warnung:
Es ist die Geschichte eines Terroranschlags der Taliban. Sie ist brutal und verstörend. Lies sie nicht, wenn du dir nicht sicher bist, sie lesen zu wollen. Lies sie nicht, wenn du davon getriggert werden könntest. Hör jederzeit auf zu lesen, wenn du merkst, dass es dir damit nicht gutgeht. Gib auf dich Acht.
Zunächst war ich Entwicklungshelfer in Kabul, Afghanistan. Es war eine spannende Zeit, die ich hauptsächlich in einer Art Lager verbrachte: ein paar duzend Baracken mit Büros und Unterkünften, in der Mitte ein Sportplatz und eine Kantine, außen herum Mauern, Wachtürme, automatische Waffen. Nur ein paarmal pro Woche durfte ich das Lager verlassen, um die Menschen zu treffen, mit denen ich arbeitete. Dazu gab es jeweils nur begrenzte Zeitfenster, viele Regeln und Einschränkungen. Zum Beispiel durfte ich niemals auf die Straße gehen, und der Transport erfolgte in gepanzerten Fahrzeugen von Schleuse zu Schleuse.
Im Lager war es angespannt. Die Mehrzahl der dort Lebenden waren Waffenträger: Sicherheitskräfte von Botschaften, oder als Unterstützung der afghanischen Polizei oder Armee. Wir sahen viel Militär, hörten Schüsse und Explosionen, bekamen fast täglich Nachrichten von Anschlägen und Kämpfen in der Stadt. Die Taliban verübten zu dieser Zeit viele Anschläge in Kabul. Sicherheitsbelange haben den Großteil meiner Zeit eingenommen, die eigentliche Arbeit kam relativ kurz. Das Lebe hatte viel von einem Aufenthalt in einem Gefängnis oder skurrilen Kloster.
Sehr oft wurden Regeln gebrochen, die unserer Sicherheit dienten. “Ach, keine Sorge, wird schon gutgehen.“, sagte dann oft irgendwer. “Ich habe Angst.“, hätte ich gern gesagt. Eines Abends wollte ich meinem Vorgesetzten mitteilen, dass ich nicht mehr bereit bin, an einem so gefährlichen Ort zu arbeiten, wenn die Sicherheitsvorschriften ständig verletzt werden. Deswegen saß ich allein spät abends im Büro an meinem Rechner und schrieb eine dezent bissige E-Mail. Während die anderen in den Wohnquartieren waren – auf der anderen Seite des Lagers.
Ausgerechnet in diesem Moment
Es knallte so gewaltig, dass ich ein paar Sekunden gar nichts mehr wahrnahm. Dann sah ich die Zeichen einer Explosion: Die Scheibe in der Bürotür war kaputt, Gegenstände waren umgeworfen. Also auf zum nächsten Bunker, mit Handy und Notfalltasche, durch den Barackenflur mit herunterhängender Decke, Qualm, losen Kabeln und Schutt.
Ich sah im Qualm die Handylampen anderer Menschen, die zum gleichen Bunker liefen. Wir kamen zeitgleich an und waren verwirrt – wir waren zu dritt und sahen niemanden weiter, aber sollten wir die Bunkertür schließen? Was, wenn noch jemand draußen ist? Und wie funktioniert eine Bunkertür? Wir hatten das nicht gelernt, so wie wir überhaupt wenig über solche Situationen gelernt hatten. Ich wurde durch 2 Türen in den Bunker geschoben und jemand bekam die Tür zu. Der sogenannte Bunker war eher ein Betontunnel, der auf die Erde gestellt war. Wir konnten uns gebückt bewegen und auf kleinen Holzbänken sitzen.
Direkt danach begannen die Schüsse. Endlose Salven automatischen Feuers, unterbrochen von kleineren Explosionen, aus allen Richtungen, sehr nah. Schreie von Menschen, die verwundet waren oder starben. Mein Bewusstsein stellte sich auf das Sterben ein. Mein Körper wurde unbeweglich hart. Das dauerte vielleicht eine Viertelstunde.
Im Bunker
Als die Situation sich hinzog, kamen meine Gedanken wieder in Gang. Ich merkte, dass ich die beiden anderen Menschen im Bunker nicht kannte. Es waren Afghanistan. Sie erklärten mir, dass wir Kollegen seien. Ich traute ihnen nicht – umso mehr, als beide zu telefonieren begannen, so laut, als wollten sie entdeckt werden. Meine Angst war, dass sie zu den Taliban gehörten und sie nun informierten, wo ich zu finden sei. Ich war abgeschnitten von meinen deutschen Kollegen, und leichte Beute. Ich sah innerlich meine Hinrichtung veröffentlicht in einem YouTube-Video und bekam erneut Panik. Doch immerhin blieb mir etwas zu tun: Ich konnte Kontakt aufbauen und mir zumindest einbilden, damit meine Überlebenschancen zu erhöhen, und das tat ich.
Da ich nur ein Handy mit afghanischen Kontakten hatte, versuchte ich einem afghanischen Kollegen eine Abschiedsnachricht mit der Bitte um Weiterleitung an meine Familie zu schicken. Er glaubte mir nicht, denn bereits jetzt war der Besitzer unseres Lagers (offiziell war es ein Hotel) im Fernsehen und verkündete, dass wir sicher seien. Keine Eindringlinge, keine Kämpfe. Ich hatte mich als Mensch noch nie so wertlos wahrgenommen: Ich hörte das Sterben und war in Lebensgefahr, aber jemand verneinte das bereits öffentlich. Um seinen Profit zu sichern.
Mein Chef rief an. Ich antwortete im Flüsterton. Er verstand mich nicht, ließ sich von seinen Emotionen überwältigen und brüllte mir im Affekt mehrere Duzend mal mit „Fuck“ und ähnlichem an.
Und die ganze Zeit dachte ich, ich würde sterben. Aber mit der Zeit wurden die Schüsse und Explosionen draußen wurden etwas weniger und schienen immer von denselben Stellen zu kommen. Zwar bedrohlich nah, aber es war ein Stellungskampf geworden. Gut für uns, denn wir würden früher oder später Unterstützung bekommen – die Taliban nicht. Dennoch mussten wir so lang überleben.
Irgendwann klopfte jemand an die Tür, gab sich als Wache aus und wurde von den anderen im Bunker wirklich hereingelassen. Ich war noch einmal schockiert. Dieser Mann in Uniform und Bewaffnung begann, unablässig den Bunker auf- und abzulaufen und wirkte sehr instabil. Dann bekam er irgendeinen Befehl per Funk und ging widerwillig hinaus, um scheinbar unkontrolliert in der Gegend herumzufeuern. Wir ließen ihn nicht wieder hinein.
Es wurde ruhiger. Nach 2 Stunden waren kaum noch Explosionen zu hören, und nur noch vereinzelte Salven. Es würde vorbeigehen. Meine Begleiter schliefen fest ein, und wenn draußen Schüsse waren, schnarchten sie einfach umso lauter. Was mussten die beiden bislang erlebt haben, um so schlafen zu können? Einer von ihnen hat nach einer Weile im Schlaf ziemlich deutlich gepupst. Es war der Furz meines Lebens: Wenn sich dieser Mensch so sehr entspannen konnte, um Luft zu lassen, dann glaubte er sicher nicht mehr sein Leben in Gefahr. Schlafen ging nicht, wegen Unmengen von Mücken im Bunker.
Ich erlebte den Rest der Nacht halbwach, bis wir draußen vertraute Stimmen hörten. Afghanische Kollegen, die zu uns in den Bunker wollten. Sie nutzten die Chance, mir zu erklären, dass sie unbedingt das Land verlassen müssen – ich wusste damals schon, dass ich ihnen dabei nicht helfen können würde.
Es ist vorbei...?
Schließlich durfte ich den Bunker verlassen. 2 Wächter eskortierten mich im Morgengrauen über das zerschossene und verbrannte Lager, durch Scherben und Blut, vorbei an Leichen und Gruppen von Soldaten. Ich sah die Einschlagstellen von Granaten an unserem Bunker. Sie waren genau dort, wo wir gesessen hatten.
Ich erreichte meine Unterkunft. Das Fenster war gesplittert. Ich zog meine Matratze vom Bett, drehte sie um, wusch mich im Dunkel mit Wasser aus Flaschen und legte mich hin. Ich fand es seltsam, dass keinen meiner Kollegen hören oder sehen konnte.
Da fielen erneut Schüsse. Ich war schockiert – was denn noch? Warum war ich aus dem Bunker gelassen worden, wenn es noch Kämpfe gab? Und was nun? Ich versteckte mich im Bad, hinter 2 cm Leichtbauwand. Mein Handy hatte 3% Akku. Ich erreichte eine Kollegin und erfuhrt, dass alle anderen noch in ihrem Bunker waren und ich hinkommen könnte. Das Problem war der Weg. Ich wusste nicht, wer unterwegs auf mich schießen würde, denn niemand rechnete damit, dass ich durchs Lager sprintete. Ich rannte um mein Leben zum zweiten Bunker und wurde eingelassen zu meinen müden, zermürbten Kollegen.
Die Schüsse stammten von einer Belagerung. Die unser Lager umgebende Gemeinde hatte fürchterliche Verluste durch die erste Explosion erlitten und sah uns als verantwortlich an: Wir waren es, die die Talibanbedrohung anzogen. Die überlebenden Wachen gaben Warnschüsse auf sie ab. Das zog sich über den Großteil des Tages hin. Wir waren angespannt in der Gruppe. es kam leicht zu Streitereien. Alle waren erschöpft. Niemand wusste, wie es weitergehen würde. Wir zogen um in einen Bunker einer deutschen Bundespolizeistaffel, die ebenfalls im Lager war und unter großer Anspannung Wache hielt.
Als wir den Bunker verlassen durften, machte sich eine seltsame Stimmung aus Kameradschaft und Aktionismus bemerkbar. Alle freuten sich, einen zu sehen und teilten, was auch immer sie hatten, besonders Lebensmittel und Getränke. Gleichzeitig wurden Akten gesammelt und vernichtet, die nicht in Talibanhände fallen sollten.
Dieselben Menschen, die mit mir die Nacht im Bunker erlebt hatten, mussten unsere Habseligkeiten aus dem Lager fahren. Ich empfinde diese Aufgabe immer noch unmenschlich, aber es spiegelt die Ungerechtigkeit wider, in der wir dort lebten.
Wir packten, wurden mit kleinem Gepäck auf den Nato-Flughafen gebracht und verließen nach einer Nacht in Flüchtlingszelten das Land. Wir waren seelisch zerstört, und das war so viel Glück, wie wir haben konnten. Andere waren lebendig verbrannt.
Coaching dank Trauma
Was danach kam, war der schwerste Weg meines Lebens: Der Umgang mit dem Trauma. Ich nahm jede Chance für Therapie, Coachingund Selbstheilung war, die ich finden konnte, und bekam jede mögliche Unterstützung dafür. Damit habe ich es geschafft, mich auch mit meiner posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD/PTBS) wieder gesund zu fühlen und arbeiten zu können. Das ging leider nicht vielen so.
Ich las, dass es manchmal ein „posttraumatisches Wachstum“ bei Menschen gibt, die solche Ereignisse erfolgreich verarbeiten – sie werden sensibler für die Herausforderungen bei anderen Menschen und gehen sensibler damit um. Deswegen werden sie häufig in sozialen Berufen oder als Coaches tätig. Und so war es auch bei mir. Es war ein schrecklicher Weg, ein unglaublicher, und ein sehr lehrreicher.